Vom Weihnachtsfestessen

Im 19. Jahr­hun­dert leg­te man sehr viel Wert auf die Eti­ket­te. Der Schrift­stel­ler Juli­us Stet­ten­heim nahm das zum Anlass, im Jah­re 1899 eine Benimm Fibel für gesell­schaft­li­che Anläs­se zu ver­fas­sen. Unter ande­rem gab er in sei­nem »Leit­fa­den durch das Jahr und die Gesell­schaft«, Tipps für die Gefah­ren, in die man beim Abend­essen gera­ten kann.

»Über den Umgang mit der Ser­vi­et­te möch­te ich eini­ge Zei­len sagen. Zu erschöp­fen wird die­ser Gegen­stand nicht sein. Ich fin­de, daß die Ser­vi­et­te, obwohl sie so etwas von einer Fah­ne der Kul­tur hat, eigent­lich ste­hen geblie­ben ist und heu­te noch wie vor hun­dert Jah­ren die Spei­sen­den mehr ärgert, als ihnen dient. Wer sie nicht zwi­schen Hals und Bin­de steckt, oder gar so befes­tigt, daß sie als Brust­schür­ze dient, – bei­des trägt nicht zur Hebung der mensch­li­chen Erschei­nung bei – wird die Bemer­kung machen, daß sie häu­fi­ger den Fuß­bo­den als den Schoß bedeckt. Stets strebt sie, her­ab­zu­fal­len, und man könn­te des­halb von einer Nie­der­tracht der Ser­vi­et­te sprechen.

Der Gast wird natür­lich immer wie­der dies eben­so nütz­li­che als untreue Wäsche­stück ein­zu­fan­gen suchen und zu die­sem Zweck sich seuf­zend bücken und die Hand unter die Tisch­de­cke ver­schwin­den las­sen müs­sen. Die­ser ein­fa­che, harm­lo­se und dem Rei­nen abso­lut rei­ne Vor­gang wird aber häu­fig miß­deu­tet, und es ist daher nötig, daß der tau­chen­de Gast sei­ne Tisch­nach­ba­rin genau abzu­schät­zen trach­tet, bevor er der abge­stürz­ten Ser­vi­et­te nachjagt.

Denn es gie­bt Damen, wel­che die­se Bewe­gung ihres Tisch­nach­bars miß­deu­ten und einen Schrei des Ent­set­zens aus­sto­ßen, so daß sich Män­ner in der Nähe fin­den, wel­che bereit schei­nen, die gar nicht gefähr­de­te Ehre der Schrei­en­den ener­gisch zu schützen.« 

Juli­us Stet­ten­heim — Der moder­ne Kinig­ge 1899